Chemisches Gleichgewicht
Hydrochemie-Programme nutzen die Gesetze der chemischen Thermodynamik, genauer: Gleichgewichts-Thermodynamik. Chemisches Gleichgewicht in einem abgeschlossenen System bedeutet:
- minimale Energie (Gibbs-Energie)
- maximale thermodynamische Stabilität
Im Gleichgewicht ändert sich die Massenverteilung zwischen den Ausgangsstoffen und Reaktionsprodukten nicht (mehr). Und genau dieser Zustand (Equilibrium) wird vom Programm für Wässer (mit/ohne Kontakt mit Fest- und Gasphasen) und Reaktionen berechnet.
Im Gegensatz zur chemischen Kinetik agiert die Gleichgewichts-Thermodynamik quasi in einer Welt ohne der physikalischen Größe “Zeit”. Das ist kein Mangel; die Grundgleichungen der klassische Thermodynamik haben fundamentalen Charakter und basieren auf einer relativ geringen Anzahl thermodynamischer Konstanten (die als thdyn Datenbank dem Programm hinterlegt sind).1
Massenwirkungsgesetz (MWG)
Chemische Prozesse wie Säure-Base-Reaktionen, Komplexbildung, Redoxreaktionen, Mineral-Auflösung/Fällung, lassen sich — sofern sie reversibel sind — formal schreiben als
(1.1) | a A + b B ⟷ c C + d D |
mit A, B, C, D als den an der Reaktion beteiligten Stoffen bzw. Ionen und a, b, c, d als deren stöchiometrische Koeffizienten. Mit dem Doppelpfeil ist hier angedeutet, dass die Reaktion in beide Richtungen verläuft: vorwärts und rückwärts (!). Es ist durchaus üblich, den Pfeil durch ein Gleichheitszeichen zu ersetzen.
Im Gleichgewichtszustand gilt das
(1.2) | Massenwirkungsgesetz: \(K = \dfrac{\{C\}^c\{D\}^d}{\{A\}^a\{B\}^b}\) |
mit K als der thdyn Gleichgewichtskonstante. Man beachte: Die geschweiften Klammern {..} symbolisieren die Aktivität des Stoffes (sog. “effektive Konzentration”).2
Anmerkung. Die meisten Hydrochemie-Programme basieren auf dem Massenwirkungsgesetz, man spricht vom MWG- bzw. LMA-Algorithmus (LMA — Law of Mass Action). Einen alternativen Modellansatz bietet GEM (Gibbs Energy Minimization); dieser Ansatz wird hier aber nicht weiter verfolgt.
Gleichgewichtskonstanten
Da sich niemals alle Ausgangsstoffe (Edukte) vollständig in Reaktionsprodukte umwandeln, liegen im Gleichgewichtszustand alle mitwirkenden Stoffe vor und zwar in einem durch K in 1.2 festgelegtem Verhältnis. Die Konstante K sagt uns also etwas über den Grad der Vollständigkeit der Reaktion (bei Einstellung des Gleichgewichts):
K | K | ||||
---|---|---|---|---|---|
1 | 0 | die Hälfte der Edukte haben sich in Produkte umgewandelt (50-ger Reaktionsumsatz) | |||
10-10 | -10 | Reaktion ist sehr unvollständig | |||
1010 | 10 | Reaktion ist fast vollständig |
Der Wertebereich von K ist weitaus größer als hier angedeutet. Da er sich über hundert Zehnerpotenzen erstreckt, ist es üblich (und bequemer) anstelle von K mit dem “log K-Wert” zu arbeiten. Das Massenwirkungsgesetz in 1.2 lautet damit:
(2.1) | log K = c · log {C} + d · log {D} – a · log {A} – b · log {B} |
Anstelle von K verwendet man oftmals den pK-Wert:
(2.2) | pK = – K |
der an die Definition des pH-Wertes als – {H+} erinnert.
Einfache Regeln. Die Reaktionsgleichung (1.1) bestimmt Form und Aussehen von 1.2. Je nach Anzahl und Stöchiometrie der Reaktionspartner ändert sich die Formel für K. Im einfachsten Fall einer Reaktion vom Typ “A ⟷ B” reduziert sich das Massenwirkungsgesetz auf K = {B}/{A}. Folgende Regeln sind hierbei zu beachten:
(2.3a) | Reaktion | A ⟷ B | K | K | |||
(2.3b) | Inverse Reaktion | B ⟷ A | 1/K | – K | |||
(2.3c) | Multiplikation mit 2 | 2 A ⟷ 2 B | K2 | 2 K | |||
(2.3d) | Division durch 2 | ½ A ⟷ ½ B | K½ | ½ K | |||
(2.3e) | 2-stufige Reaktion | A ⟷ B (mit K1) | K1 · K2 | K1 + K2 | |||
B ⟷ C (mit K2) |
Thermodynamische Reaktionsdaten (log K Werte)
Zwei Dinge sind notwendig, um eine Gleichgewichtsberechnung durchzuführen:
• das Modell: | MWG-Algorithmus | (z.B. PhreeqC, aqion, …) |
• thermodynamische Daten: | log K-Werte | (z.B. wateq4f3, …) |
Die Rolle und Wichtigkeit der thdyn Daten (bzw. Datenbank) kann man nicht hoch genug einschätzen. Modelle sind leere Hülsen, in welche erst die thdyn Daten Leben einhauchen.
Heute existieren Dutzende von Hydrochemie-Programmen, meist MWG-basiert und von hoher numerischer Genauigkeit. Gibt man die gleiche Startlösung (Inputwasser) und den gleichen thdyn Datensatz vor, dann führen die Berechnungen fast immer zu gleichen Ergebnissen. In der Praxis aber verfügt jedes Programm über seine eigene (oftmals benutzerdefinierte) thdyn Datenbank, so dass die gleiche Startlösung unterschiedliche Ergebnisse liefern kann (d.h. andere Speziierung, andere Sättigungsindizes, usw.).
Modellvergleiche zeigen, dass die Ursache für voneinander abweichende Berechnungsergebnisse hauptsächlich in den Unterschieden der verwendeten thdyn Datenbanken liegt. Die Frage “Welches Software wurde verwendet?” ist unvollständig. Man sollte nachfragen: “Welche thermodynamische Datenbank wurde verwendet?”
Ein Blick in die Datenbank. Die thdyn Datenbank4 enthält mindestens zwei Angaben zu jeder Spezies:
- die Reaktionsformel (Stöchiometrie)
- den K-Wert
Beispiel. Der Eintrag für die 1. Dissoziationsstufe der Schwefelsäure lautet (bei 25):
H+ + SO4-2 = HSO4-
log_k 1.988
Anmerkung 1. Reaktionsgleichung und log K-Wert gehören zusammen. Es macht keinen Sinn, den log K-Wert losgelöst von der zugehörigen Reaktionsgleichung anzugeben. Kehrt man z.B. die Richtung der Reaktion in 1.1 um, dann ändert der log K-Wert sein Vorzeichen — siehe einfache Regeln.
Anmerkung 2. Der log K-Wert ist temperaturabhängig. Die Angaben beziehen sich standardmäßig auf 25. Mit Hilfe zusätzlicher Parameter (ebenfalls in der Datenbank enthalten) erfolgt dann die Umrechnung auf andere Temperaturen.
Stöchiometrische Koeffizienten
Wie wir gesehen haben, macht die Angabe des K-Werts ohne Bezug zur Reaktionsgleichung keinen Sinn. Beide gehören zusammen (wie hier in 1 Zeile angegeben):
(3.1) | a A + b B ⟷ c C + d D | log K |
Diese eine Zeile enthält drei Informationen:
- die stöchiometrischen Koeffizienten (a, b, c, d)
- die Namen der Reaktionspartner (A, B, C, D)
- die Gleichgewichtskonstante (als K-Wert)
Die Reaktionsgleichung (3.1) lässt sich in eine algebraischen Gleichung umwandeln. Dazu ersetze man den Doppelpfeil durch ein Gleichheitszeichen und bringen alle Terme auf die rechte Seite der Gleichung:
(3.2) | 0 = c C + d D – a A – b B |
oder noch allgemeiner:
(3.3) | \(0\ =\ \sum\limits_i \, \nu_i A_i\) |
wobei Ai (= A, B, C, D) den i-ten Reaktionspartner und \(\nu_i\) den entsprechenden stöchiometrischen Koeffizienten bezeichnen. Hierbei gilt \(\nu_i>0\) für die Produkte und \(\nu_i<0\) für die Edukte. Stöchiometrische Koeffizienten spielen somit eine wichtige Rolle (zusammen mit der Vorzeichenkonvention für Edukte und Produkte).
Scheinbare bzw. Konditionelle Gleichgewichtskonstante
Ersetzt man in 1.2 die Aktivitäten durch molare Konzentrationen, so tritt anstelle der thdyn Gleichgewichtskonstante K die scheinbare bzw. konditionelle Gleichgewichtskonstante:5
(4.1) | \(^cK \ =\ \dfrac{[C\,]^c \,[D\,]^d}{[A\,]^a \,[B\,]^b}\) |
Wegen der Aktivitäts-Konzentrations-Beziehung \(\{i\} = \gamma_i\, [i]\) gilt
(4.2) | \(^cK \ =\ \left[ \dfrac{\gamma_c \,\gamma_d}{\gamma_a \, \gamma_b} \right]^{-1} \ K\) |
Nur im Fall “idealer”, also stark verdünnten Lösungen, für die \(\gamma_i = 1\) gilt, verschwindet der Unterschied zwischen thdyn und scheinbarer Gleichgewichtskonstante. Mit steigender Konzentration (bzw. Ionenstärke der “realen Lösung”) weicht cK mehr und mehr von K ab.
Auch hier gilt die Kurzschreibweise pcK = – cK, so dass man die obere Gleichung umschreiben kann als:
(4.3) | \(p\,^c\!K \,=\, pK - (\log\gamma_a + \log\gamma_b - \log\gamma_c - \log\gamma_d)\) |
Gibbs Energie
Zwischen der Gleichgewichtskonstanten K und der Gibbs-Energie ΔG0 besteht ein fundamentaler Zusammenhang:
(5.1) | ΔG0 = – RT ln K |
Hier sind R = 8.314 J mol-1K-1 die Gaskonstante und T die absolute Temperatur in Kelvin. Diese Gleichung lässt sich nach log K wie folgt umstellen (man beachte den Übergang vom natürlichen zum dekadischen Logarithmus):
(5.2) | \(\log \, K = -\dfrac{\Delta G^{0}}{\ln\, 10 \,\cdot RT} \, = -\dfrac{\Delta G^{0}}{2.3 \,\cdot RT}\) |
Diese Gleichungen gelten ausschließlich für die thermodynamische Gleichgewichtskonstante K (und nicht für cK). Man beachte, dass sich der log K-Wert — im Gegensatz zu K — auch wie eine “Energie” verhält, die additiv sein muss und in (2.3e) auch tatsächlich ist.
ΔG0 ist eine reaktionsspezifische Konstante, die sich standardmäßig auf 25 bezieht (d.h. T = 298 K). Sowohl ΔG0 als auch der log K-Wert sind stark temperaturabhängig — mehr dazu hier.
Notation. Zur gewählten Schreibweise “ΔG0” stellen sich zunächst drei Fragen.
- Frage 1: Warum ΔG und nicht einfach “G”?
Prinzipiell gilt, dass es keine absolute Energie(skala) gibt; nur Energieunterschiede sind sinnvoll und messbar. In unserem Fall ist ΔG die Differenz zwischen den Gibbs-Energien der Produkte und Edukte. Infinitesimal kleine Änderungen (Differentiale) werden mit dG abgekürzt.
- Frage 2: Warum ausgerechnet die “Gibbs”-Energie?
Von allen Energiearten (innere Energie U, Enthalpie H, Helmholtz freie Energie A) ist die Gibbs-Energie auf chemische Reaktionen zugeschnitten, bei denen sich die Teilchenzahl ändert, d.h. dni ≠ 0. Unter typischen Laborbedingungen (konstanter Druck, konstante Temperatur) sind dG bzw. ΔG mit dem chemischen Potential μi der Spezies i wie folgt verknüpft:
(5.3) | dG = Σi μi dni | bzw. | ΔG = Σi μi νi |
Links steht die Gibbs-Duhem-Beziehung, rechts deren integrierte Form,6 bei der die (unbekannten) Stoffmengenänderungen dni durch die die bekannten Stöchiometrie-Koeffizienten \(\nu_i\) (aus der Reaktionsformel) ersetzt sind.
- Frage 3: Wofür steht der hochgestellte Index “0” in ΔG0?
Während ΔG die Gibbs-Energie-Änderung eines beliebigen Zustands (Gleichgewichts- oder Nichtgleichgewichtszustand) bezeichnet, ist mit ΔG0 ausdrücklich der Gleichgewichtszustand gemeint. Dabei gilt:
(5.4) | ΔG = ΔG0 + RT ln Q | mit | \(Q \ = \ \dfrac{\{C\}^c\{D\}^d}{\{A\}^a\{B\}^b}\) |
Q heißt Reaktionsquotient — eine Art “Nicht-Gleichgewichts-Konstante”. Für ΔG = 0 wird aus Q die Gleichgewichtskonstante K in 1.2. Im Gleichgewichtszustand vereinfacht sich auch 5.3 zu:
(5.5) | ΔG0 = Σi μ0i νi |
mit μ0i als dem Standard-chemischen Potential von Spezies i (welches man z.B. aus Thermodynamik-Tabellen erhält).
Chemisches Gleichgewicht aus zwei Perspektiven
Das Konzept des chemischen Gleichgewichts erscheint uns heute einfach und naheliegend. Historisch gesehen entwickelte sich das Konzept aus zwei diametral entgegengesetzten Richtungen: von der Reaktionskinetik und von der klassischen Thermodynamik.
Reaktionskinetik. Die Beobachtung des Reaktionsablaufs zeigte, dass jede Hinreaktion A ⟶ B mit einer Rückreaktion B ⟶ A einhergeht, deren Geschwindigkeiten von der Konzentration der Edukte bzw. Produkte bestimmt wird:7
(6.1a) | vhin = khin · [Edukte] | |
(6.1b) | vrück = krück · [Produkte] |
wobei die Raten khin und krück als Proportionalitätskonstanten auftreten.
Während der Reaktion verringert sich die Eduktmenge, womit vhin sinkt, wohingegen die Produktmenge und damit vrück ansteigen. Dies führt dazu, dass die Geschwindigkeiten beider Reaktionen sich angleichen.8 Der Zustand, bei dem vhin = vrück gilt, ist das chemische Gleichgewicht.
Man beachte: Auch im Gleichgewichtszustand (bei denen sich die Konzentrationen nicht ändern) laufen alle Reaktionen weiter, und zwar mit von Null verschiedener Geschwindigkeit vhin = vrück > 0.
Thermodynamik. Im Jahr 1873 führte Josiah Willard Gibbs das Konzept des chemischen Potenzials μ ein (und dessen Beziehung zur “freien Energie” ΔG, die, ihm zu Ehren, heute Gibbs-Energie heißt). Auf diese Weise wurden die bislang separat bestehenden Gebiete “klassische Thermodynamik” und “Chemie” miteinander verknüpft.
Gemäß diesem Konzept ist das chemische Gleichgewicht erreicht, wenn die Gibbs-Energie auf ihren Minimalwert sinkt (Extremalprinzip).
Resümee. Der erste Ansatz (Reaktionskinetik) ist einfacher zu verstehen; man “sieht” quasi wie sich Edukte und Produkte im Zeit-Ablauf ändern. Im krassen Gegensatz dazu kennt die Thermodynamik (zweiter Ansatz) den Begriff “Zeit” nicht. In der Thermodynamik ist die “Zeit” durch den abstrakten Begriff “Energie” ersetzt.
Der Effekt von Temperatur T und Druck P
Für praktische Belange sollte man folgendes wissen:
Der K-Wert ist (stark) T-abhängig, aber vom Druck P unabhängig.
Die Unabhängigkeit des K-Wertes vom Druck resultiert daraus, dass bei Flüssigkeiten und Feststoffen so gut wie keine thermodynamische Volumenänderung auftritt (ΔV0 ≈ 0) — ganz im Gegensatz zu Gasen.
Anmerkungen und Referenzen
-
Auch wenn die thdyn Datenbanken der Hydrochemie-Programme weit über tausend Daten umfassen, ist das nur ein Bruchteil dessen, welche Kinetik-Modelle (mit ihrer Vielzahl an Reaktions-Parametern) erfordern würden. ↩
-
Aktivitäten werden mit geschweiften Klammern {…}, molare Konzentrationen mit eckigen Klammern […] abgekürzt. ↩
-
JW Ball and DK Nordstrom: WATEQ4F – User’s manual with revised thermodynamic data base and test cases for calculating speciation of major, trace and redox elements in natural waters, USGS Open-File Report 90-129, 185 p, 1991. ↩
-
Dies ist ein Textfile mit ca. 4000 Zeilen, den man im Programm-Unterverzeichnis
LIB
alswateq4f.dat
findet. (Wenn man das Filewateq4f.dat
mit einem Texteditor anschaut, empfiehlt es sich, vorher eine Sicherheitskopie zu erstellen.) ↩ -
Der Index c an cK leitet sich von conditional equilibrium constant ab. ↩
-
Die Integrationsvariable dni wird durch \(\nu_i\) dξ ersetzt. Anschließend wird die “Reaktionsfortschritts-Koordinate” ξ von ξ=0 bis 1 integriert. ↩
-
Genau genommen sind es nicht die Konzentrationen, sondern Aktivitäten. ↩
-
Diese Zeitspanne kann zwischen einigen Millisekunden (bei Säure-Base-Reaktionen) und vielen Jahren (bei Redoxreaktionen oder Mineralausfällungen bzw. -Auflösungen) variieren. ↩