Kohlensäure-Kinetik
In der Wasserchemie wird zwischen zwei Arten von Kohlensäure unterschieden:
(1a) | wahre Kohlensäure: | H2CO3 |
(1b) | zusammengesetzte Kohlensäure: | H2CO3* = CO2(aq) + H2CO3 1 |
Jede der beiden Säuren besitzt eine eigene Gleichgewichtskonstante (für die erste Dissoziationsstufe):
Kohlensäure | Reaktionsgleichung | GG-Konstante | |
---|---|---|---|
(2a) | wahre | H2CO3 = H+ + HCO3- | Ktrue |
(2b) | zusammengesetzte | H2CO3* = H+ + HCO3- | K1 |
wobei gemäß dem Massenwirkungsgesetz gilt:
(3a) | Ktrue | = | {H+} {HCO3-} / {H2CO3} | |
(3b) | K1 | = | {H+} {HCO3-} / ({CO2(aq) · H2O} + {H2CO3}) |
Im Folgenden wird gezeigt, wie man die Werte für Ktrue und K1 aus den Reaktionsraten der Kohlensäure-Kinetik herleitet.
Reaktionskinetik
An der Kohlensäure-Kinetik sind drei Spezies beteiligt: CO2(aq), H2CO3 und HCO3-, die sich wie folgt ineinander umwandeln:2
Die Geschwindigkeit, mit der die Umwandlungen erfolgen, ist durch sechs Kinetik-Raten k12 bis k32 eindeutig bestimmt (jeweils ein Parameter für die Hin- und einer für die Rückreaktion).
Übersetzt man dieses Schema in die mathematische Sprache der chemischen Kinetik, so erhält man folgendes Differenzialgleichungssystem (DGL-System):
(4a) | – d [ 1 ] / dt = (k12+k13) [ 1 ] – k21 [ 2 ] – k31 [ 3 ] |
(4b) | – d [ 2 ] / dt = (k21+k23) [ 2 ] – k12 [ 1 ] – k32 [ 3 ] |
(4c) | – d [ 3 ] / dt = (k31+k32) [ 3 ] – k13 [ 1 ] – k23 [ 2 ] |
mit den Abkürzungen: | [ 1 ] | = | H+ + HCO3 |
[ 2 ] | = | H2CO3 | |
[ 3 ] | = | CO2(aq) + H2O |
Aus Experimenten ist bekannt, dass sich die Kinetik-Raten außerordentlich stark voneinander unterscheiden. So unterscheidet sich die langsame (k13, k31) von der schnellen Reaktion (k12, k21) um mehr als fünf Größenordnungen (!):
(5) | k13, k31 ≪ k12, k21 |
Damit können wir k13 und k31 in 4a vernachlässigen. Aus der Gleichgewichtsbedingung für 4a, d.h. aus d[1]/dt = 0, folgt damit
(6) | – d [ 1 ] / dt = k12 [ 1 ] – k21 [ 2 ] = 0 | ⇒ | k21 / k12 = [ 1 ] / [ 2 ] |
Der Vergleich der rechten Beziehung mit 3a zeigt, dass der Quotient k21/k12 nichts anderes als die Gleichgewichtskonstante der “wahren Kohlensäure” ist:
(7) | Ktrue = [ 1 ] / [ 2 ] = {H+} {HCO3-} / {H2CO3} |
Setzen wir diese Beziehung, in Form von [ 1 ] = Ktrue [ 2 ], in 4c ein, so folgt
(8) | – d [ 3 ] / dt = (k31+k32) [ 3 ] – (k13 Ktrue + k23) [ 2 ] |
Der Übersichtlichkeit halber fasst man die in runden Klammern stehenden Raten zu jeweils einer Rate zusammen:
(9a) | ka = k13 Ktrue + k23 | |
(9b) | kb = k31 + k32 |
In dieser verkürzten Notation erhält man aus der Bedingung d[3]/dt = 0 eine zweite Gleichgewichtskonstante:
(10) | K0 = ka / kb = [ 3 ] / [ 2 ] = {CO2(aq) · H2O} / {H2CO3} |
Auf diese Weise vereinfacht sich das obere Diagramm (mit drei Komponenten und 6 Kinetik-Raten) zu einem Diagramm, in dem dieselben drei Komponenten durch nur 2 Gleichgewichtskonstanten (K0 und Ktrue) miteinander verknüpft sind:
Zusammengesetzte Gleichgewichtskonstante K1
In der Hydrochemie ist es üblich, die beiden Spezies CO2(aq) und H2CO3 zu einer einzigen Komponente, der zusammengesetzten Kohlensäure H2CO3*, zu vereinen — wie es schon in 1b getan wurde. Die zugehörige Gleichgewichtskonstante K1 steht in 3b und lautet:
(11) | K1 = {H+} {HCO3-} / ({CO2(aq) · H2O} + {H2CO3}) |
Wie hängt nun K1 mit Ktrue und K0 zusammen? Um dies zu beantworten, gehen wir in zwei Schritten vor:
Erstens, wir nutzen 7, um {H+}{HCO3-} im Zähler von 11 zu ersetzen:
(12) | K1 | = | Ktrue {H+} {H2CO3} / ({CO2(aq) · H2O} + {H2CO3}) |
= | Ktrue / ({CO2(aq) · H2O}/{H2CO3} + 1) |
Zweitens, wir setzen 10 in die letzte Beziehung ein und erhalten schließlich die gesuchte Formel:
(13) | K1 = Ktrue / ( K0 + 1 ) |
Graphisch lässt sich der Zusammenhang zwischen den drei Gleichgewichtskonstanten (K1, K0, Ktrue) wie folgt veranschaulichen:
Kinetik-Raten und Gleichgewichtskonstanten
Für die Kinetik-Raten sind folgende experimentelle Daten bzw. Abschätzungen bekannt (gültig unter Standartbedingungen 25 und 1 atm):
k12 | = | 5·1010 M-1 s-1 | Pocker & Blomkquist3 | ||
k21 | = | 1·107 s-1 | Pocker & Blomkquist3 | ||
ka | = | kH2CO3 | ≈ | 18 s-1 | Stumm & Morgan4 |
kb | = | kCO2 | ≈ | 0.04 s-1 | Stumm & Morgan4 |
[Anmerkung: Es ist keineswegs einfach, die Kinetik-Raten im Labor exakt zu bestimmen. Daher gibt man meist einen Parameterbereich an, wie z.B. in Stumm & Morgan für kH2CO3 = 10 … 20 s-1 und kCO2 = 0.025 … 0.04 s-1.]
Die Tabelle macht deutlich: Die Raten für die schnelle Reaktion (k12, k21) und langsame Reaktion (ka, kb) unterscheiden sich um mehrere Größenordnungen. Da ka eine obere Grenze für k23 und kb eine obere Grenze für k32 darstellen, ist die Annahme in 5 voll gerechtfertigt.
Basierend auf den vier Kinetik-Raten sind wir nun in der Lage, die drei Gleichgewichtskonstanten zu berechnen:5
(14a) | K0 | = | ka/kb | = | 450 | ⇔ | log K0 | = | 2.65 | |
(14b) | Ktrue | = | k21/k12 | = | 2.0·10-4 M | ⇔ | log Ktrue | = | -3.7 | |
(14c) | K1 | = | Ktrue / ( K0 + 1 ) | = | 4.4·10-7 M | ⇔ | log K1 | = | -6.35 |
In der Tat sind dies die “offiziellen” Werte für Ktrue and K1, wie sie auch hier verwendet werden.
Referenzen und Anmerkungen
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Dies ist keine Reaktionsgleichung, sondern eine Abkürzung für H2CO3*. ↩
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Y Pocker, D Bjorkquist: Stopped-flow studies of carbon dioxide hydration and bicarbonate dehydration in H2O and D2O acid–base and metal ion catalysis. J. Am. Chem. Soc. 99, 6537–6543, 1977 ↩ ↩2
-
W Stumm and JJ Morgan: Aquatic Chemistry, Chemical Equilibria and Rates in Natural Waters, 3rd ed. John Wiley & Sons, Inc., New York, 1996 ↩ ↩2
-
Die Gleichgewichtskonstanten K0 einerseits und Ktrue sowie K1 andererseits besitzen unterschiedliche Maßeinheiten (dies ist kein Tippfehler). ↩