Das offene Carbonatsystem
Unter einem “offenen Carbonatsystem” versteht man (reines) Wasser im Gleichgewicht mit dem CO2 der Atmosphäre.1
Im Gegensatz zum geschlossenen Carbonatsystem ist der DIC keine Erhaltungsgröße mehr, sondern ändert sich je nach dem CO2-Partialdruck und/oder pH-Wert.
Das Henry-Gesetz
Zwischen dem im Wasser gelösten CO2(aq) und dem Kohlendioxid der Gasphase CO2(g) besteht ein linearer Zusammenhang (Henry-Gesetz). Zwei Dinge sind hierbei zu beachten:
- anstelle von CO2(g) verwendet man den CO2-Partialdruck PCO2 in atm
- anstelle des im Wasser gelösten CO2 verwendet man die zusammengesetzte Kohlensäure H2CO3*
Das Henry-Gesetz lautet damit:2
(1) | {H2CO3*} = KH ∙ PCO2 | mit KH = 10-1.47 M atm-1 (bei 25) |
Der Partialdruck als Inputgröße wird hier eingegeben.
Chemisches Gleichgewicht
Die Berechnung des offenen CO2-Systems basiert auf vier Gleichgewichtsreaktionen und den zugehörigen Gleichgewichtskonstanten:3
(2a) | CO2(g) ⇔ H2CO3* | log KH | = -1.47 |
(2b) | H2CO3* ⇔ H+ + HCO3- | log K1 | = -6.35 |
(2c) | HCO3- ⇔ H+ + CO3-2 | log K2 | = -10.33 |
(2d) | H2O ⇔ H+ + OH- | log KW | = -14.0 |
Die Beziehung zwischen den Spezies lässt sich wie folgt veranschaulichen:
Drückt man jede Gleichgewichtsreaktion durch das Massenwirkungsgesetz aus, so erhält man vier Gleichungen, die den Grundstock einer mathematischen Beschreibung bilden.
Das Gleichungssystem
Das offene CO2-H2O-System ist durch 6 Spezies (also 6 Unbekannte) definiert:
CO2(g), H2CO3*, HCO3-, CO3-2, H+ und OH- (oder H2O) |
Um die Konzentrationen dieser 6 Spezies auszurechnen, bedarf es 6 Gleichungen:
(3a) | KH | = {H2CO3*} / PCO2 | = 10-1.47 |
(3b) | K1 | = {H+} {HCO3-} / {H2CO3*} | = 10-6.35 |
(3c) | K2 | = {H+} {CO3-2} / {HCO3-} | = 10-10.33 |
(3d) | Kw | = {H+} {OH-} | = 10-14.0 |
(3e) | CT | = [CO3-2] + [HCO3-] + [CO2] | (Massenbalance) |
(3f) | 0 | = [H+] – [HCO3-] – 2 [CO3-2] – [OH-] | (Ladungsbalance) |
Die ersten vier Gleichungen repräsentieren das Massenwirkungsgesetz aus 2a bis (2d); die letzten beiden die Massen- und Ladungsbalance.4 Man beachte hier die “Asymmetrie”: Während das Massenwirkungsgesetz auf Aktivitäten (in geschweiften Klammern) basiert, gehen in die Massen- und Ladungsbalance die molaren Konzentrationen (in eckigen Klammern) ein.5
Die als CT bezeichnete Größe entspricht dem DIC.
Lässt man Gl. (3a) weg, dann reduziert sich das Gleichungssystem auf das eines geschlossenen Carbonatsystems.
Gleichgewichts-Speziierung im offenen CO2-System
Gibt man den Partialdruck PCO2 vor, dann ist das offene CO2-System durch die Gleichungen (3a) bis (3f) vollständig festgelegt. Dies ergibt für normale atmosphärische Bedingungen (PCO2 = 0.00039 atm) folgende Gleichgewichts-Speziierung (bei 25):6
Input: | pCO2 | 3.408 | ( = – log PCO2 ) | ||
Output: | pH | 5.61 | |||
CO2 | 0.0133 | mM | ( = H2CO3* ) | ||
HCO3- | 0.0024 | mM | |||
CO3-2 | 4.7·10-8 | mM | |||
DIC | 0.0157 | mM | ( = CO2 + HCO3- + CO3-2 ) |
Es entspricht der Zusammensetzung eines pristinen Regenwassers.
Offenes vs. Geschlossenes CO2-System
Hier ist der Vergleich des offenen Systems mit einem Beispiel zum geschlossenen System:
offen | geschlossen | |||
---|---|---|---|---|
Input | pCO2 = 3.408 | DIC = 1 mM | ||
pH | 5.61 | 4.68 | ||
CO2 | mM | 0.0133 | 0.979 | |
HCO3- | mM | 0.0024 | 0.021 | |
CO3-2 | mM | 4.7·10-8 | 4.8·10-8 | |
DIC | mM | 0.0157 | 1.000 | |
pCO2 | 3.408 | 1.54 |
Beim offenen System gibt man den pCO2-Wert vor; beim geschlossenen System den DIC. Beide Größen unabhängig voneinander vorzugeben, ist nicht möglich. Man kann dieses Konzept aber auch “auf den Kopf” stellen, indem man
• | das offene CO2-System als “geschlossenes System bei Vorgabe von 0.0157 mM DIC” beschreibt |
• | das “geschlossene System (1 mM DIC)” als “offenes System bei Vorgabe von pCO2 = 1.54” beschreibt.7 |
Das unterschiedliche Verhalten beider Systeme zeigt sich insbesondere, wenn man das System mit Säuren oder Basen attackiert (sog. Titration): Im offenen System bleibt der CO2 (bzw. pCO2-Wert) konstant; im geschlossenen System der DIC-Wert.
Beispiel: Titrationsrechnung
Es ist relativ einfach, ein Carbonatsystem mit aqion zu simulieren. Die Ergebnisse einer Titrationsrechnung (mit HCl und NaOH) sind im unteren Diagramm dargestellt.
Man beachte, wie der DIC bei pH > 5.6 exponentiell ansteigt (hellblaue Kurve). Basische Wässer saugen förmlich das CO2 aus der Luft ein. Das Gegenbeispiel ist das geschlossene System, bei dem der DIC, unabhängig vom pH, immer konstant bleibt — siehe hier.
Anmerkungen
-
Mehr zur Begriffswelt des offenen und geschlossenen Systems (und worin sich beide voneinander unterscheiden) findet man hier und als PowerPoint-Präsentation. ↩
-
Geschweifte Klammern, {..}, symbolisieren Aktivitäten; rechteckige Klammern, [..], molare Konzentrationen. ↩
-
Die Gleichgewichtskonstanten beziehen sich hier auf 25. ↩
-
Die Begriffe “Molbalance” und “Massenbalance” werden als Synonyme verwendet. ↩
-
Die drei Gleichgewichtskonstanten KH, K1 und K2 sind in der aqion zugrunde liegenden thermodynamischen Datenbank wateq4f definiert. ↩
-
Zum Berechnen dieser Werte, beginne man mit reinem Wasser (Taste H2O) und wähle “Offenes CO2-System”, um den pCO2-Wert einzugeben, danach Taste Start). Die Carbonat-Speziierung ist in Tabelle “Ionen” enthalten. ↩
-
pCO2 ≈ 1.5 ist ein typischer Wert mancher Grundwässer, bei dem der erhöhte CO2-Partialdruck aus dem Abbau organischen Materials herrührt. ↩