Das geschlossene Carbonatsystem
In einem “geschlossenen Carbonatsystem” gibt es keinen CO2-Austausch mit der Atmosphäre. Im Gegensatz zum offenen Carbonatsystem bleibt damit der gelöste anorganische Kohlenstoffs (DIC) konstant, wenn man den pH-Wert durch Zugabe von Säuren oder Basen ändert:1
(1) | CT = DIC = [H2CO3*] + [HCO3-] + [CO3-2] = const |
Das geschlossene CO2-H2O-System wird durch fünf Spezies charakterisiert:2
(2) | H2CO3*, HCO3-, CO3-2, H+ und OH- (oder H2O) |
Wir benötigen also fünf Gleichungen, um das System mathematisch zu beschreiben.3
Das nichtlineare Gleichungssystem
Der chemische Gleichgewichtszustand ist durch ein nichtlineares Gleichungssystem (bestehend aus fünf Gleichungen)4 eindeutig festgelegt:5
(3a) | K1 | = {H+} {HCO3-} / {H2CO3*} | = 10-6.35 |
(3b) | K2 | = {H+} {CO3-2} / {HCO3-} | = 10-10.33 |
(3c) | Kw | = {H+} {OH-} | = 10-14.0 |
(3d) | CT | = [CO3-2] + [HCO3-] + [CO2] | (Molbalance) |
(3e) | 0 | = [H+] – [HCO3-] – 2 [CO3-2] – [OH-] | (Ladungsbalance) |
Die ersten drei Gleichungen repräsentieren das Massenwirkungsgesetz, die letzten beiden die Mol- und Ladungsbalance.6 Man beachte die “Asymmetrie”: Während das Massenwirkungsgesetz auf Aktivitäten (geschweifte Klammern) basiert, gehen in die Mol- und Ladungsbalance die molaren Konzentrationen (eckige Klammern) ein.
Es sind die “Aktivitäten” (in den geschweiften Klammern), welche die mathematische Lösung des Gleichungssystems erschweren. Für moderne Hydrochemie-Programme ist das kein Problem, da sie über Aktivitätsmodelle für nicht-ideale Wässer per se verfügen; für einen Taschenrechner oder einfaches Excel-Programm aber schon.
Bei stark verdünnten Lösungen verschwindet der Unterschied zwischen Aktivität und molarer Konzentration, was das Ganze enorm vereinfacht. Eine andere Herangehensweise besteht darin, konditionelle Gleichgewichtskonstanten zu verwenden (wie man es z.B. in der Meerwasser-Chemie tut).
Konditionelle Gleichgewichtskonstanten (Meerwasser)
Prinzipiell kann man in 3a bis (3c) alle Aktivitäten durch Konzentrationen ersetzen (d.h. die geschweiften durch eckige Klammern). Dazu muss man allerdings die universellen thermodynamischen Gleichgewichtskonstanten K durch konditionelle Gleichgewichtskonstanten cK ersetzen:
(4a) | cK1 | = [H+] [HCO3-] / [H2CO3*] | |
(4b) | cK2 | = [H+] [CO3-2] / [HCO3-] | |
(4c) | cKw | = [H+] [OH-] | |
(4d) | CT | = [CO3-2] + [HCO3-] + [CO2] | (Molbalance) |
(4e) | 0 | = [H+] – [HCO3-] – 2 [CO3-2] – [OH-] | (Ladungsbalance) |
Der Nachteil der cK ist, dass diese Größen von der Lösungszusammensetzung abhängen, insbesondere von der Ionenstärke I oder Salinität Sal. Für stark verdünnte Wässer (also Lösungen mit I ≈ 0) fallen beide Gleichgewichtskonstanten zusammen: cK = K; der Unterschied nimmt aber mit steigender Ionenstärke I schnell zu.
Meerwasser. Meerwasser hat I ≈ 0.7 M, was an der Grenze des Gültigkeitsbereichs herkömmlicher Aktivitätsmodelle liegt. In der Ozeanographie bevorzugt man deshalb konditionelle Gleichgewichtskonstanten, welche empirische Funktionen von Temperatur, Druck und Salinität sind: cK = f (T, P, Sal).
Das folgende Beispiel zeigt, wie stark cK von den universellen thermodynamischen Gleichgewichtskonstanten abweicht, wenn man den Salzgehalt von 0 (reines Wasser) auf 35 g/L (Meerwasser bei 25, 1 atm) erhöht:7
thermodynamische K (reines H2O) | konditionelle cK (Meerwasser) | ||||
---|---|---|---|---|---|
pK1 | 6.35 | 6.00 | |||
pK2 | 10.33 | 9.10 | |||
pKH | 1.47 | 1.53 | |||
pKW | 14.0 | 13.9 |
[Die thermodynamischen Gleichgewichtskonstanten in der mittleren Spalte beziehen sich auf 3a bis (3c), wobei pK = –log K. Mit KH ist die Henry-Konstante gemeint, die man jedoch nur für das offene CO2-System benötigt.]
Verteilungskoeffizienten
Ersetzt man in den oberen Gleichungen alle Aktivitäten durch Konzentrationen (z.B. durch Übergang zu konditionellen Gleichgewichtskonstanten), dann lässt sich das Gleichungssystem in eine analytische Formel umwandeln.
Dazu stelle man 4a bis (4c) nach einer Konzentration um und setze diese in 4d und (4e) ein. Anschließend fasst man die letzten beiden Gleichungen zu einer zusammen. Damit sind wir alle Konzentrationen bis auf [H+] losgeworden und das fünfzeilige Gleichungssystem verschmilzt zu einer Formel (mit x = [H+]):8
(5) | x4 + K1 x3 + (K1K2 – Kw – CTK1) x2 – K1 (Kw + 2CTK2) x – KwK1K2 = 0 |
Das ist eine Gleichung vierten Grades in x. In dieser Gleichung stehen nur “Naturkonstanten” (K1, K2, KW) und der frei wählbare CT-Wert (also DIC). Bei Vorgabe des DIC-Werts liefert 5 die H+-Konzentration x und, wegen pH = –log x, den pH-Wert der Lösung.
Nebenbei bemerkt: 5 gilt für jede 2-protonige Säure H2A — siehe hier.
Verteilungskoeffizienten. Während 5 den pH-Wert bei Vorgabe des DIC liefert, fragen wir nun nach der pH-Abhängigkeit der drei Carbonat-Spezies. Eine praktikable und zuverlässige Näherungsformel erhält man aus drei der fünf Gleichungen des Gleichungssystems (4). Dazu setze man 4a und (4b) in die Molbalance-Gleichung (4d) ein, was zu drei Beziehungen führt:
(6) | [H2CO3*] = CT a0 | [HCO3-] = CT a1 | [CO3-2] = CT a2 |
mit den drei Verteilungskoeffizienten (wobei x = [H+] = 10-pH)
(7a) | a0 = ( 1 + K1/x + K1K2/x2 )-1 | |
(7b) | a1 = ( x/K1 + 1 + K2/x )-1 | |
(7c) | a2 = ( x2/(K1K2) + x/K2 + 1 )-1 |
Man kann leicht nachprüfen, dass die Summe der Verteilungskoeffizienten exakt 1 ergibt:
(8) | a0 + a1 + a2 = 1 | (Molbalance) |
Die Verteilungskoeffizienten als Funktion des pH sind im unteren Diagramm für eine Beispielrechnung mit CT = 1 mM dargestellt. Dabei gilt folgende Zuordnung:
grüne Kurve: | CT a0 = a0 in mM |
blaue Kurve: | CT a1 = a1 in mM |
orangene Kurve: | CT a2 = a2 in mM |
Beispiel: Gleichgewichts-Speziierung für 1 mM DIC
Das geschlossene CO2-System, welches durch das Gleichungssystem (3a) bis (3e) eindeutig festgelegt ist, liefert folgende Gleichgewichts-Speziierung für 1 mM DIC (bei 25 °C):
pH | 4.68 | |||
CO2 | 0.979 | mM | ( = H2CO3* ) | |
HCO3- | 0.021 | mM | ||
CO3-2 | 4.8·10-8 | mM | ||
DIC | 1.00 | mM | ( = CO2 + HCO3- + CO3-2 ) |
Dieses Ergebnis lässt sich mit dem Programm auf drei verschiedenen Wegen berechnen, die alle mit reinem Wasser (Taste H2O) beginnen:
Weg 1. Umschalten auf molare Konzentrationen (Checkbox Mol) und Eingabe von 1 mM DIC. Danach Taste Start und den Ladungsausgleich mit dem Parameter pH durchführen. In der Ergebnistabelle Ionen findet man die Carbonat-Speziierung — siehe Beispiel.
Weg 2. 1 mM CO2 wird zu reinem Wasser zugegeben (Taste Reac).
Weg 3. 1 mM H2CO3 wird zu reinem Wasser zugegeben (Taste Reac).
Beispiel: Titrationsrechnung
Gegeben sei ein geschlossenes CO2-System mit 1 mM DIC. Die Ergebnisse einer Titrationsrechnung (mit HCl und NaOH) sind in den zwei unteren Diagrammen zusammengefasst.
Anmerkungen und Referenzen
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Die Zugabe von Kohlensäure ist hier ausgeschlossen. ↩
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Mit H2CO3* ist hier die zusammengesetzte Kohlensäure bezeichnet (sie wird im Programm schlicht mit CO2 abgekürzt). ↩
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Mehr zum Vergleich des offenen und geschlossenen CO2-Systems findet man hier. ↩
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Mathematische Herleitung in: Review (2021) oder Lecture (2023). ↩
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Die ganz rechts stehenden Gleichgewichtskonstanten beziehen sich auf T = 25 — siehe auch hier. ↩
-
Die Begriffe “Molbalance” und “Massenbalance” werden als Synonyme verwendet. ↩
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FJ Millero: The thermodynamics of the carbonic acid system in the oceans. Geochimica et Cosmochimica Acta 59, 661–667 (1995) ↩
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Um die Notation nicht zu überfrachten, lassen wir den Index c bei cK weg. ↩