2-Protonige Säuren
Die mathematische Beschreibung von 2-protonigen Säuren (zu denen auch die Kohlensäure gehört) führt zu einfachen analytischen Gleichungen. Deren Herleitung dient dem besseren Verständnis dafür, was hinter den Kulissen der Hydrochemie-Programme abläuft.12
Das Gleichungssystem
Bei Zugabe einer 2-protonigen Säure zu reinem Wasser bildet sich ein Gleichgewichtszustand mit 5 gelösten Spezies: H+, OH-, H2A, HA- und A-2.
Für eine mathematische Beschreibung des Gleichgewichtszustandes sind deshalb 5 Gleichungen erforderlich:3
(1a) | K1 | = {H+} {HA-} / {H2A} | (1. Dissoziation) |
(1b) | K2 | = {H+} {A-2} / {HA-} | (2. Dissoziation) |
(1c) | Kw | = {H+} {OH-} | (Selbstdissoziation H2O) |
(1d) | CT | = [H2A] + [HA-] + [A-2] | (Massenbalance) |
(1e) | 0 | = [HA-] + 2 [A-2] + [OH-] – [H+] | (Ladungsbalance) |
Die ersten drei Gleichungen repräsentieren das Massenwirkungsgesetz; die letzten beiden die Massen- und die Ladungsbalance. Während das Massenwirkungsgesetz auf Aktivitäten (in geschweiften Klammern) basiert, gehen in die Massen- und Ladungsbalance die molaren Konzentrationen (in eckigen Klammern) ein.
Zum Lösen des Gleichungssystems benötigt man also zusätzlich Modelle für die Aktivitätsberechnung. In zwei Fällen darf man aber die Aktivitäten direkt durch Konzentrationen ersetzen: (a) bei stark verdünnten Lösungen und/oder (b) beim Übergang von thermodynamischen zu konditionellen Gleichgewichtskonstanten cK. Im Folgenden machen wir von dieser Annahme Gebrauch (ohne die Schreibweise durch cK, anstelle von K, zu überladen).
Notation. Die (molaren) Konzentrationen der drei Säurespezies [H2 A], [HA-] und [A-2] kürzen wir ab als
(2) | [j] = [H2-j A-j] | mit j = 0, 1, 2 |
Anstelle der H+-Konzentration schreiben wir x. Der Zusammenhang mit dem pH-Wert ist dann gegeben durch:4
(3) | x = [H+] = 10-pH | ⇔ | pH = –log [H+] = –log x |
Ziel. Wir suchen nach einer Formel, die uns den Zusammenhang zwischen pH und der Gesamtmenge an Säure CT (der im oberen Gleichungssystem versteckt ist) direkt vor Augen bringt. Aber gibt es diese Formel überhaupt?
Die Antwort (hier vorweggenommen) ist ja und nein; sie hängt davon ab, welche Größe gegeben und welche gesucht wird:
• gegeben: pH | gesucht: CT | ⇒ | einfache Berechnungsformel in 7 |
• gegeben: CT | gesucht: pH | ⇒ | quartische Gleichung in 9 |
Eine quartische Gleichung (d.h. ein Polynom 4. Ordnung) algebraisch zu lösen, ist nicht-trivial und stellt damit keine einfache Berechnungsformel dar.5
Im zweiten Teil wird das Konzept auf Säure-Base-Reaktionen angewendet.
Verteilungskoeffizienten – Ionization Fractions (a0, a1, a2)
Das obere Gleichungssystem besteht aus zwei Subsystemen: die “Säure” H2A und das “Wasser” H2O. Die Säure wird durch drei Gleichungen beschrieben: 1a, (1b) und (1d); das Wasser nur durch 1c. Beide Subsysteme sind über 1e miteinander verknüpft.
In diesem Abschnitt interessiert uns nur das Subsystem “Säure”. Anstelle der drei Säurespezies [j] führen wir drei “Verteilungskoeffizienten” ein:
(4) | aj = [j] / CT | mit j = 0, 1, 2 |
Diese auf 1 “normierten Konzentrationen”, die den Dissoziationsgrad ausdrücken, sind vollkommen unabhängig von der Säuremenge CT. Dividiert man 1d durch CT, dann vereinfacht sich die Massenbilanz-Gleichung zu:
(5) | 1 = a0 + a1 + a2 | (Massenerhaltung) |
Die Gleichungen (1a) und (1b) zusammen mit 5 liefern schließlich — nach etwas Umformung — die pH-Abhängigkeit der drei Verteilungskoeffizienten (hier ausgedrückt durch x = 10-pH):
(6a) | a0 = [ 1 + K1/x + K1K2/x2 ]-1 | |||
(6b) | a1 = [ x/K1 + 1 + K2/x ]-1 | = | (K1/x) a0 | |
(6c) | a2 = [ x2/(K1K2) + x/K2 + 1 ]-1 | = | (K1K2/x2) a0 |
Alle Information zum Subsystem “Säure” steckt nun in den drei Verteilungskoeffizienten, welche wiederum auf den Säurekonstanten K1 und K2 aufbauen. Sie ersetzen die Gleichungen (1a), (1b) und (1d).
Die graphische Darstellung der Verteilungskoeffizienten liefert elegante, glatte Kurven. So erhält man für das Carbonatsystem (mit pK1 = 6.35, pK2 = 10.33) das folgende Diagramm für a0, a1 und a2:
Die drei im Diagramm markierten Punkte sind Äquivalenzpunkte.
Exakte analytische Lösung
Nachdem wir das Subsystem “Säure” durch einfache pH-abhängige Verteilungskoeffizienten aj ausgedrückt haben, gilt es nun die beiden Subsysteme “Säure” und “Wasser” miteinander zu koppeln. Die Kopplung geschieht mittels 1e. Wir dividieren diese Gleichung durch CT und erhalten
0 = a1 + 2 a2 – ([H+] – [OH-]) / CT |
Dank 1c können wir [OH-] durch [H+]/Kw bzw. x/Kw ersetzen. Dies oben eingesetzt und nach CT umgestellt, liefert
(7) | \(C_T(x) \ =\ \dfrac{x-K_w/x}{a_1 + 2a_2} \ =\ \left(x-\dfrac{K_w}{x}\right) \ \dfrac{K_2/x + 1 + x/K_1} {1 + 2K_2/x}\) |
Das ist die gesuchte Berechnungsformel. Gibt man den pH (bzw. x) vor, dann erhält man den exakten Wert für die Säuremenge CT. Im selben Atemzug kennt man die Gleichgewichtsverteilung aller drei Säurespezies:
(8) | [H2-j A-j] \(=\ C_T(x)\,a_j(x)\ =\ \left( \dfrac{x-K_w/x}{a_1 + 2a_2} \right) \ a_j\) | für j = 0, 1, 2 |
Frage: Lässt sich eine Umkehrfunktion, also pH = f(CT), aus der analytischen Formel (7) herleiten?
Antwort: Eine Umkehrfunktion in expliziter Form pH = f(CT) gibt es nicht. Es gibt nur eine implizite Lösung in Form einer Polynomgleichung.
pH für vorgegebenes CT. Dazu muss man 7 nach x umstellen — unter Zuhilfenahme der Verteilungskoeffizienten aus 6. Dies führt zu einer Polynomgleichung 4. Ordnung in x:
(9) | x4 + K1 x3 + (K1K2 – CT K1 – Kw) x2 – K1 (2CT K2 + Kw) x – K1K2Kw = 0 |
Das ist also die zu 7 inverse Gleichung. Diese Formel berechnet (sofern man überhaupt in der Lage ist, eine quartische Gleichung algebraisch zu lösen5) den pH (= – log x) für vorgegebene Konzentrationen CT einer 2-protonigen Säure.
Säure mit ihren konjugierte(n) Base(n)
Nach Brønsted-Lowry gehört zu jeder Säure eine konjugierte Base. Pro Dissoziationsstufe existiert jeweils 1 konjugiertes Säure-Base-Paar:
H2A | = H+ + HA- | (HA- ist konjugierte Base von Säure H2A) | ||
HA- | = H+ + A-2 | (A-2 ist konjugierte Base von Säure HA-) |
Die Spezies HA- ist in diesem Fall sowohl Säure als auch Base und heißt deshalb Ampholyt. Das Ganze wird anschaulicher, wenn wir eine “richtige” Base BOH ins Spiel bringen (mit B+ = Na+ oder K+). Dann repräsentiert beispielsweise H2CO3, NaHCO3 und Na2CO3 ein solches Säure-Ampholyt-Base-System. Verallgemeinert gilt:
(2.1) | BnH2-n A | (bzw. H2-n A-n) | mit | n = 0 | für Säure | (H2A) | |
n = 1 | für Ampholyt | (BHA) | |||||
n = 2 | für Base | (B2A) |
Die stöchiometrische Größe n drückt hier das Verhältnis zwischen [B+] und der Gesamt-Säuremenge CT aus:
(2.2) | n = [B+] / CT = CB / CT |
wobei CB die Menge der starken Base bezeichnet (starke Basen dissoziieren vollständig, deshalb gilt [B+] = CB).
Das Gleichungssystem, welches dieses verallgemeinerte System beschreibt, lautet:
(2.3a) | K1 | = {H+} {HA-} / {H2A} | (1. Dissoziation) | |
(2.3b) | K2 | = {H+} {A-2} / {HA-} | (2. Dissoziation) | |
(2.3c) | Kw | = {H+} {OH-} | (Selbstdissoziation) | |
(2.3d) | CT | = [H2A] + [HA-] + [A-2] | (Massenbalance) | |
(2.3e) | n CT | = [HA-] + 2 [A-2] + [OH-] – [H+] | (Ladungsbalance) |
Es unterscheidet sich nur in einem einzigen Punkt vom Gleichungssystem (1): dem Auftreten von nCT in der Ladungsbalance (2.3e). Setzt man n=0, dann gelangt man zum Gleichungssystem (1). [Zur Herleitung der Ladungsbalance-Gleichung und deren Zusammenhang mit der Protonenbalance siehe Anhang A und Anhang B.]
Da die ersten vier Gleichungen unverändert geblieben sind, ändert sich auch nichts an den Verteilungskoeffizienten wie sie oben eingeführt wurden. Egal welchen Wert CB und/oder CT haben, die Kurvenform der aj im Diagramm bleibt unangetastet.
In 2.1 wurde der Stöchiometrie-Faktor n als Ganzzahl 0, 1 oder 2 eingeführt. Lässt man diese Einschränkung fallen und erlaubt n eine reelle Zahl zu sein (sogar negativ), dann dient das obere Gleichungssystem gleichwohl zur Beschreibung von Puffersystemen und der alkalimetrischen Titration.
Exakte analytische Lösung – Säure-Base-System
Vollkommen analog zur oberen Herleitung lässt sich das erweiterte Gleichungssystem (2.3) ebenfalls auf eine einfache analytische Formel bringen:
(2.4) | \(C_T(x) \, = \, \dfrac{x - K_w/x} {a_1 + 2a_2 - n}\) |
Man beachte hier das Auftreten von n als den einzigen Unterschied zu 7. Die pH-Abhängigkeit steckt in x (= 10-pH) und x steckt auch in a1 und a2. Die gesamte pH-Abhängigkeit wird sichtbar, wenn man (6b) und (6c) in 2.4 einsetzt:
(2.5) | \(C_T = \left(x-\dfrac{K_w}{x}\right) \ \left(\dfrac{1+2K_2/x} {x/K_1 + 1 + K_2/x}-n\right)^{-1}\) |
Und genau wie vordem steht man vor dem gleichen Dilemma: Mit der einfachen Formel sind wir zwar in der Lage, für ein vorgegeben pH-Wert (und vorgegebenes n) die Säuremenge CT zu berechnen, der umgekehrte Fall, den pH aus der Vorgabe von CT zu berechnen, führt wieder zu einer quartischen Gleichung.
pH für vorgegebenes CT. Stellt man 2.5 nach x um, so erhält man ein Polynom 4. Ordnung in x:
(2.6) | x4 + {K1 + nCT} x3 + {K1K2 + (n–1)CT K1 – Kw} x2 + K1 {(n–2)CT K2 – Kw} x – K1K2Kw = 0 |
Das sind drei Polynom-Gleichungen in kompakter Form zusammengefasst: eine für die Säure (n=0), eine für das Ampholyt (n=1) und eine für die Base (n=2). Die Gleichung enthält zwei Variablen pH = –log x und CT; alles andere sind Gleichgewichtskonstanten (K1, K2 und KW).
Anwendungsbeispiel
Im unteren Diagramm ist CT als Funktion des pH für das Carbonatsystem dargestellt. Die durchgezogenen Linien repräsentieren 2.5 für n = 0, 1, und 2. Die Punkte repräsentieren exakte numerische Berechnungen mit PhreeqC bzw. aqion, welche Aktivitätskorrekturen berücksichtigen (die in 2.5 fehlen). Aktivitätskorrekturen sind insbesondere für hohe Konzentrationen von Na2CO3 relevant.
Der in 2.5 stehende erste Term (x – Kw/x) nähert sich Null für pH → 7.0 (d.h. für x = 10-7). Mit anderen Worten, CT verschwindet bei pH=7 und alle Kurven — unabhängig von n — treffen sich im Punkt pH=7. Das muss auch so sein, denn CT=0 entspricht reinem Wasser.
Anhang A: Ladungsbalance
Das Prinzip der Elektroneutralität fordert, dass in jeder wässrigen Lösung die Zahl der Kationen und Anionen gleich ist:
(A1) | [H+] + [B+] = [HA-] + 2 [A-2] + [OH-] |
Da eine 1-wertigen starke Base BOH in Wasser vollständig dissoziiert, gilt:
(A2) | CB ≡ [BOH]T = [B+] |
Deshalb darf man [B+] in A1 durch CB ersetzen und erhält:
(A3) | CB = [HA-] + 2 [A-2] + [OH-] – [H+] |
Verwendet man 2.2, also CB = n CT, dann folgt daraus 2.3e.
[Anmerkung: Abweichungen von der Ladungsbalance deuten in der Praxis auf Messfehler hin. Der sogenannte Ionenbilanzfehler ist ein Maß für die Güte einer Wasseranalyse. Im Idealfall wäre dieser Null.]
Anhang B: Protonenbalance
In Lehrbüchern wird anstelle der Ladungsbalance mitunter die Protonenbalance verwendet. Im Fall der 2-protonigen Säure lautet die Protonenbalance:6
(B1) | 0 = [H+] + n [H2A] + (n-1) [HA-] + (n-2) [A-2] – [OH-] |
Diese Beziehung ist äquivalent zur Ladungsbalance in A3. Um das zu sehen, setze man in B1 n = CB/CT mit CT = [H2A] + [HA-] + [A-2].
Anmerkungen
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Eine ausführliche mathematische Beschreibung findet man im Review (2021) oder als Lecture (2023). ↩
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Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, wie z.B. die Tableau-Methode (FM Morel, JG Hering: Principles and Applications of Aquatic Chemistry, John Wiley, 1993). Ein Anwendungsbeispiel für 2-protonige Säuren ist als PowerPoint beigefügt. ↩
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Die im Wasser gelöste, aber undissozierte, neutrale Spezies H2A wird auch als H2A(aq) oder H2A0 symbolisiert, um sie von der Säure “H2A” zu unterscheiden. ↩
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Streng genommen basiert der pH-Wert nicht auf der Konzentration, sondern auf der Aktivität von H+: pH = –log {H+}. ↩
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Es existieren algebraische Lösungsformeln für quadratische, kubische und quartischen Gleichungen (Polynom 4. Ordnung), der Aufwand bei den letzten beiden ist aber enorm. (Nebenbei: Polynome 5. Ordnung und höher sind algebraisch nicht mehr lösbar. Das ist ein erstaunliches Faktum.) ↩ ↩2